Perspektivwechsel: Behindert sein oder behindert werden?
Bundes-Hospiz-Anzeiger │ Februar 2022

Entwicklung eines Konzeptes zur Aufnahme von Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen im Johannes-Hospiz Münster
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In der jüngeren Vergangenheit hat es im Umgang mit Menschen, die komplexe Beeinträchtigungen haben, einen Perspektivwechsel gegeben: Im Fokus steht nicht mehr die körperliche oder kognitive Beeinträchtigung des Menschen, sondern welche Barrieren ihn in seiner praktischen Lebenswirklichkeit an der Teilhabe in unserer Gesellschaft hindern.
Dieses soziale Modell von Behinderung löst das medizinische und defektologische Modell ab. Es nimmt die Lebensbedingungen in den Blick. Die Verantwortung Zugänge zu schaffen liegt damit bei der Gesellschaft. Nicht der Mensch mit seiner Behinderung soll sich einer Institution anpassen, sondern die Einrichtung muss Bedingungen schaffen, die auch diesen Menschen Teilhabe ermöglicht.
Dieser Perspektivwechsel und erste Erfahrungen im Umgang mit Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen haben das Team des Johannes-Hospiz in Münster 2019 motiviert, sich mit der Thematik intensiver zu beschäftigen. Das Ziel: Instrumente zu entwickeln, die unterstützen und helfen, die Begleitung von Menschen mit komplexen und kognitiven Einschränkungen zu verbessern.
Fokus auf den Prozess der Aufnahme im Hospiz
Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen sind die Ausnahme im Johannes-Hospiz. Daher gibt es im Umgang mit dieser Bewohnergruppe wenig Erfahrung. Die Versorgung war von Unsicherheit und einem „Tun aus dem Bauch heraus“ geprägt.
Das Pflegeteam des Johannes-Hospiz stellte sich die Frage: Welche Überlegungen könnten uns helfen, diese besondere Bewohnergruppe im stationären Alltag noch besser zu begleiten und zu versorgen? – Durch eine besonders eindrückliche Begleitung eines Mannes aus einer Wohngruppe der Eingliederungshilfe verfestigte sich im Team der Gedanke, ein Instrument zu entwickeln (ähnlich einer Checkliste oder eines Maßnahmenkataloges) auf das man in einer ähnlichen Situation zugreifen kann.
In der Retrospektive wurde schnell klar, dass der Themenkomplex „Menschen mit geistiger Beeinträchtigung in einer stationären Hospizeinrichtung“ so vielfältig ist, dass ein ganzer Katalog an Instrumenten hätte entwickelt werden können.
Im gemeinsamen Austausch, welcher Aspekt in der stationären Hospizarbeit genau beleuchtet werden soll, entschied sich das Team im Johannes-Hospiz, den Fokus auf den Prozess der Aufnahme zu richten.
Die zentralen Fragen sind hier: Wie kann die Aufnahme eines Menschen mit komplexer Beeinträchtigung in einer stationären Hospizeinrichtung gelingen? Wie können wir sicherstellen, dass dieser Mensch im Hospiz „gut ankommt“ und wir seine Lebenszeit bis zum Ende gut gestalten und begleiten?
Die Aufnahme im Hospiz - ein Lebenseinschnitt
Die Aufnahme in eine stationäre Hospizeinrichtung ist ein wesentlicher Einschnitt im Leben vieler Bewohner und deren Zugehörige, häufig verbunden mit vielen Unsicherheiten, Gedanken und Ängsten. Die Bewohner müssen Abschied nehmen von ihrem Zuhause, sich mit dem Gedanken vertraut machen nicht wieder zu genesen und somit nicht mehr viel Lebenszeit zur Verfügung zu haben.
Für Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen, die in ein stationäres Hospiz umziehen müssen, ist dieser Wechsel eine noch größere Herausforderung. Diese Menschen haben zum Teil über Jahrzehnte in engen familien-ähnlichen Beziehungen gelebt. Sie haben eine sehr enge Bindung zu Mitarbeitern und Mitbewohnern einer Einrichtung aufgebaut. Darüber hinaus können sie den notwendig gewordenen Umzug kognitiv nicht immer richtig verstehen. Und: sie haben nicht die Möglichkeit sich gedanklich mit ihrem Lebensende auseinanderzusetzen. So fühlen sie sich im Stich gelassen und allein.
Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen machen besondere Lebenserfahrungen, die ein anderes Hinschauen nötig machen. Diese Erfahrungen reichen vom Vorenthalten von Partnerbeziehungen über eine geringe menschliche Wertschätzung bis hin zur verminderten Chance auf schulische Förderung.
Im Johannes-Hospiz ist der Aufnahmeprozess in Form eines internen Handlungsstandards und einer Checkliste schriftlich hinterlegt. Diese „Standards“ werden regelmäßig im Rahmen des Qualitätsmanagements geprüft und wenn nötig angepasst. So ist sichergestellt, dass Handlungsabläufe einheitlich sind, dass sie für alle Mitarbeiter transparent sind und Qualitätsstandards eingehalten werden.
Auf der Grundlage von Expertenberichten aus der Eingliederungshilfe, der Hospitation einer Mitarbeiterin des Johannes-Hospizes in der Eingliederungshilfe sowie der Literaturrecherche zu dem Thema wurde deutlich, dass diese Handlungsstandards auf Barrieren und Kontextfaktoren geprüft werden müssen, wie sie im Rahmen der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) benannt werden.
Die Leitfragen sind:
Was braucht es an Vorbereitungen vor dem Einzug, die speziell für diese Bewohnergruppe hilfreich sind? Welche Handlungsabläufe können im Aufnahmeprozess Barrieren werden und bedürfen einer Veränderung?
So haben wir uns auf der Grundlage der Pflegeanamnese die Lebensbereiche angeschaut, die dabei eine besondere Rolle spielen könnten. Da wir nicht alle Lebensbereiche in den Blick nehmen konnten, haben wir uns entschieden, unseren Fokus zunächst auf die Bereiche Nahrung, Schlafen, Beschäftigung, Soziales und Erfahrungen zu richten. Es sind die Lebensbereiche, die bei dieser besonderen Bewohnergruppe eine große Rolle spielen. Unsere bestehenden Konzepte für Pflege und Begleitung sind diesbezüglich zu erweitern und anzupassen.
Da die Mitarbeiter/-innen im Johannes Hospiz den Umgang mit einer Checkliste und auch mit einem Maßnahmenkatalog bereits kennen, haben wir uns für diese Form der Dokumentation entschieden.
Entwicklung seit Beginn der Pandemie
Leider hat die Corona-Pandemie dazu geführt, dass die Evaluation beider Instrumente noch aussteht, da im Johannes-Hospiz seit 2019 keine Menschen mit komplexer Beeinträchtigung zur Aufnahme angemeldet wurden.
Abschließend ist anzumerken, dass wir die Instrumente auf der Grundlage vorhandener Handlungsabläufe des Johannes-Hospiz Münster entwickelt haben. Diese lassen sich zwar nicht unmittelbar auf andere stationäre Hospize übertragen. Sie laden aber ein, sich dem Thema gedanklich zu nähern und kreative Ideen im eigenen Setting zu entwickeln.
Darüber hinaus ist es dem Team des Johannes-Hospiz wichtig, dass sie als mögliche Alternative wahrgenommen werden, wenn eine Versorgung im gewohnten Umfeld nicht möglich ist und ein Umzug ins Hospiz sinnvoll erscheint.
(Autorin: Susanne Damhus, Fachkraft für Palliative Pflege beim Johannes-Hospiz Münster)
Dieser Artikel erschien im Februar 2022 bundesweit in der Fachzeitschrift „Bundes-Hospiz-Anzeiger“ des Deutschen Hospiz- und Palliativ-Verbandes, die zu dem Thema eine Schwerpunkt-Ausgabe veröffentlichte.
Foto:
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Johannes-Hospiz bei der Erarbeitung des Konzeptes 2019
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