Eine heile Welt
zum Advent
Sie war sechzig oder siebzig Jahre alt und schön gewachsen. Im Sommer spendete ihr Laubdach Schatten und sorgte für gute Luft. Hin und wieder wurde ihr Stamm zur Litfaßsäule - Plakate warben für eine Veranstaltung, Leute suchten nach der entlaufenen Katze oder boten ihre Dienste als Fensterputzer an. Doch dann kamen Arbeiter und holzen die schöne Platane ab, Ast für Ast und schließlich den ganzen Stamm. Übrig blieb nur der Stumpf mit den Wurzeln, tief in der Erde. Was keiner geahnt oder gesehen hatte, der Baum war krank. Das Innere des Stammes war schon ziemlich zersetzt.
Manchmal ist es so: von außen sieht man nicht, wie krank das Innere ist. Da hilft dann nur noch die Radikalkur. Der Wortbedeutung nach heißt das ja, dass man an die Radix, die Wurzel geht, um etwas zu heilen. Der Advent hat etwas mit einer solchen Radikalkur zu tun. Das Königshaus Davids, einst mächtig und prächtig, ist nicht mehr zu retten. Der Prophet Jesaja kündigt das Ende an. Wie ein prächtiger Baum wird es abgeholzt, bis zur Wurzel. Doch aus diesem Baumstumpf, aus dieser Wurzel sprießt neues Leben empor: "An jenem Tag wächst aus dem Baumstumpf Isais ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht." (Jes 11,1)
Die Vision des Propheten wird sehr konkret: Es geht um Missstände, die zur gängigen Praxis geworden sind. Es geht um Recht und Gerechtigkeit. Es sind keine frommen Trostworte, sondern ein geradezu politisches Programm zum Wohl der Kleinen und Geringen. Und das wird dieser "Spross aus der Wurzel Isais" konkret angehen: "Er richtet nicht nach dem Augenschein, und nicht nur nach dem Hörensagen entscheidet er, sondern er richtet die Hilflosen gerecht und entscheidet für die Armen des Landes, wie es recht ist. Er schlägt den Gewalttätigen mit dem Stock seines Wortes und tötet den Schuldigen mit dem Hauch seines Mundes." (Jes 11, 3-4)
In dem kleinen und zarten Trieb sieht Jesaja die Vollmacht Gottes in diese Welt hineinwachsen. Er ist mit all dem ausgestattet, was die Mächtigen dieser Welt so oft vermissen lassen: "Der Geist des Herrn lässt sich nieder auf ihm: der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Gottesfurcht."
Viele der schönen Adventslieder sind in ihrem Kern auch "politische" Lieder, die Gottes Option für Recht und Gerechtigkeit besingen. "Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit …" Dieser Herr, dieser König, von dessen Eintreten in die Welt hier gesungen wird, er ist ein Bote des Heils und des Lebens, "gerecht und sanftmütig". Er bringt "all unsre Not zum End". Und erst nach dieser, vielmehr aufgrund dieser "politischen" Zusage wird der Sänger dieses Liedes fromm und entzückt: "Euer Herz zum Tempelt zubereit'. Die Zweiglein der Gottseligkeit steckt auf mit Andacht Lust und Freud …" In der Tat wäre all das nur Gefühlsduselei, wenn dahinter nicht die konkret Zusage eines Programms zum Wohl der Menschen stehen würde. Genau das ist ja das Problem, das man mit der weltlichen Vorbereitung auf Weihnachten haben darf: Sie ist Gefühlsduselei, weil ihr der Wille und die Kraft der politischen Vision einer gerechten Welt fehlt.
Immer wieder gibt mir der Advent diese Betrachtung mit auf den Weg: Der zarte Spross, der aus dem Wurzelstumpf emporwächst, ist Gottes Programm für heile Welt.
Lutz R. Nehk
Hier können Sie den Beitrag anhören: MEDITATION
Foto: © Nehk 2013 , Musik: musopen.org
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